Ziegelroda macht Weltgeschichte

Astrophysiker Schlosser: Fundort zwischen Nebra und Querfurt gestattet Bezüge zur griechischen Antike

Halle/MZ. vom 24.09.2002
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass die mittlerweile nicht mehr so genannte Sternenscheibe von Sangerhausen am 252 Meter hohen Mittelberg im Ziegelrodaer Forst gefunden wurde, nördlich der Unstrut bei Nebra. Seit mehreren Wochen laufen Grabungen des Landesamtes für Archäologie in den Resten einer vorgeschichtlichen Wallanlage, die die überführten Schatzjäger offenbar als Ort ihrer Nacht- und Nebel-Entdeckung preisgegeben haben. Aber während noch die Wissenschaftler die Bodenschichten erkunden und Lokalpolitiker um die Namensgebung streiten, stellt der Astronom Wolfhard Schlosser aus der nun gegebenen Kenntnis der Ortslage heraus neue und weit reichende Bezüge über die Bedeutung der Scheibe her.

Schlosser, Astrophysiker an der Universität Bochum und bekannt für seine Forschungen zu vorzeitlicher Himmelskunde, gehörte zu den ersten Interpreten der Sternenscheibe. Unter anderem bereicherte er die Diskussion mit der These, die Scheibe zeige möglicherweise die Phasen einer Mondfinsternis. Jenseits aller Mutmaßungen aber erkennt er ihren Wert darin, dass es sich fraglos um einen, Gegenstand astronomischen Inhaltes handelt. Aus seiner Entstehungszeit - geschätzt wird etwa 3 600 Jahre v. Chr. - und bis in die Antike hinein sind Denkmale solch eindeutiger Bewandtnis nicht überliefert, auch wenn etwa Stonehenge mit einiger Wahrscheinlichkeit als ein himmelskundliches Observatorium gelten kann.

Für Schlosser ist der Fundort der Sternenscheibe denn auch kein Zufall und erst recht nicht auf ein lokales Interesse begrenzt. Der Mittelberg ist wie der Ziegelrodaer Forst heute mit dichtem Mischwald bewachsen. Nach Nordwesten steht er jedoch in einer räumlichen Beziehung zum Brocken und zum Kyffhäuser. Und laut Schlosser hat diese Beziehung zumindest für den Brocken eine erwiesene astronomische Erkenntnis: Damals konnte man vom Mittelberg die Sonne zur Sommersonnwende genau an diesem Berg untergehen sehen.

Es dürfte für den jetzt ausgebrochenen Disput um die topografische Zuordnung des Grabungsortes von Belang sein, dass Schlosser für seine Thesen den Fundort der Scheibe nicht unbedingt auf den Zentimeter genau kennen muss. Es erscheint ohnehin fraglich, ob er jemals mit letzter Gewissheit zu ermitteln ist. Vielmehr weist Schlosser anhand der Sternenscheibe dem Mittelberg im Zusammenhang mit der archäologischen Landschaft des Ziegelrodaer Forsts insgesamt eine neue weltgeschichtliche Bedeutung zu.

Wie in seinem Buch "Sterne und Steine - Eine praktische Astronomie der Vorzeit" um kühne aber faktenreich untermauerte Hypothesen nicht verlegen, greift Schlosser nun auch in der Angelegenheit "Sternenscheibe" weit aus. Steht sie - wie er assoziieren zu können glaubt - für eine Ebene der Wissens- und Kulturvermittlung vom Norden in den Mittelmeerraum? Es ist ja schon bemerkenswert, wenn Homer in der Ilias den Schild des Achill, vom Gott Hephaistos aus Kupfer, Zinn und Gold geschmiedet, als meisterliche Reliefarbeit schildert: "Auf dem Schilde schuf er die Erde, das Meer und den Himmel / Den gerundeten Mond und die unermüdliche Sonne, drauf alle Gestirne, die rings den Himmel bekränzen, / Die Pleiaden . . ."

Tatsächlich ist auf der Sternenscheibe in der Anordnung der kleinen Goldpunkte zwar offenbar der Nachthimmel gemeint, es ist aber alles vermieden worden, das auf ein Sternbild hinweist, außer einem - den Pleiaden, dem Siebengestirn. Homer wiederum nennt die Pleiaden an erster Stelle.

Wenn es 3600 v. Chr. einem nordischen Astronomen klar gewesen ist, dass die Pleiaden den Frühlingspunkt bezeichnen, und wenn er die Sommersonnwende bestimmen konnte, dann fällt nach Schlossers Beobachtung neues Licht auf eine dunkle Stelle bei Herodot. Der griechische Geschichtsschreiber hat im 5.Jahrhundert v. Chr. in den "Historien" von den nur dämmerhaft bekannten Hyperboräern, den Nordmenschen, berichtet. Niemand, schreibt er, wisse etwas Verlässliches über sie "weitaus das meiste über sie sagen aber die Delier".
Auf der dem Apoll geweihten kleinen Insel Delos gab es unzählige Heiligtümer. Auch die Hyperboräer hätten Opfer dargebracht. Als Überbringer der Opfer hätten sie zwei Mädchen geschickt und zu ihrer Sicherheit fünf Männer, als Begleiter, "die Perpherer genannt werden und auf Delos große Ehren genießen."

Zufall oder nicht, auch Delos gehört mit zwei Berggipfeln zu den alchäo-astronomischen Stätten der Antike. Nach Schlosser bezeichnen die beiden prominenten Berggipfel der kahlen Insel die Sonnenstände bei Winter- und Sommersonnwende.
Ziegelroda belehrte Delos? Man wird ja fragen dürfen. Jedenfalls wussten Menschen, die in der Bronzezeit am Mittelberg lebten, einiges über die Jahreszeiten und konnten sie fixieren. Dass das überlebenswichtig war, weil davon Aussaat und Ernte abhingen, das hat man bereits aus der Sternenscheibe heraus gelesen. Über die Tiefe der vorzeitlichen Himmelsbeobachtung hat Schlosser noch eine andere Beobachtung gemacht. Der als "Himmelsschiff" bezeichnete gekrümmte Goldbeschlag könnte in seinen Augen ein Hinweis auf die Milchstraße sein. Aber längst noch ist über die Sternenscheibe nicht alles gesagt.